Experte erklärt: „Die Kultur verstehen und widerspiegeln“ – so sehen die Festivals der Zukunft aus

Wie werden Festival in Zukunft aussehen, was können Besucher erwarten? Diese Frage treibt nicht nur viele Open-Air-Liebhaber nach dem Ende der Saison 2023 an, sondern auch Mike Kucksdorf. Im Gespräch mit Tonight News erklärt der Festival-Experte, welche drei Zauberwörter entscheidend sein werden.
Parookaville 2023
Foto: Parookaville / Julian Huke
Parookaville 2023
Foto: Parookaville / Julian Huke

Der Festivalsommer 2023 ist Geschichte. Einmal mehr zog es Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen in Deutschland auf Äcker, Lichtungen und andere Open-Air-Areale, um unter freiem Himmel zu feiern und den Lieblingskünstlern zu lauschen.

Einer, der das bunte Treiben seit Jahren aus nächster Nähe beobachtet und entscheidend mitprägt, ist Mike Kucksdorf. Der Mönchengladbacher hat sich als Vermarkter der größten und renommiertesten Festivals einen Namen in der Livemusik-Szene gemacht und sorgt mit seiner Kreativagentur Error unter anderem beim Parookaville dafür, dass Sponsoren und Partnermarken im bestmöglichen Rahmen auf dem Festivalgelände auftreten.

Marketing-Experte erklärt: Kultur des Festival muss verstanden werden

Mikes Weg dorthin führte ihn zunächst als einfachen Gast, später auch selbst als Veranstalter, auf Festivals auf der ganzen Welt. Der Wandel vom einfachen Open-Air-Besucher zum Verantwortlichen führte auch dazu, dass er die besuchten Events aus ganz anderer Sicht betrachtete, wie er im Gespräch mit Tonight News reflektiert: „Wie kriegen diese Festivals es hin, dass die coolsten Marken dafür zahlen, in ihrem Umfeld für sich werben zu dürfen?“

Der Mönchengladbacher Mike Kucksdorf leitet den Festivalvermarkter Festivalfire sowie die Kreativagentur Error.
Foto: ERROR

Dabei fiel ihm auf: „Das ist ein wahnsinnig mühseliger Prozess aus Klinkenputzen und Nachhaken. Denn, ob man es glaubt oder nicht, viele Konzerne haben keine eigene Abteilung für Sponsoring. Dementsprechend fehlt es vielen Festivals, oder Open Airs an einem Netzwerk.“ Aus dieser Erfahrung heraus gründete er eines seiner Unternehmen, Festivalfire, über das er anderen Festivals und Liveproduktionen sein Know-How in Sachen Vermarktung weitergeben konnte.

Für Mike geht es in erster Linie darum, „Partner zu finden, die die Kultur des Festivals verstehen und im besten Fall widerspiegeln.“ Der lokale Sparkassenverband beispielsweise mache da bei offen antikommerziellen, antikapitalistischen Festival wie dem Fusion „gar keinen Sinn.“

Integrativ, emotional, authentisch: So müssen Festivals auf Besucher wirken

Aber wie muss sich ein modernes Festival denn dann aufstellen, wenn es starke, attraktive Partner an seiner Seite haben und damit die Finanzierung sichern will? Mikes drei Zauberwörter dafür lauten: Integrativ, emotional, authentisch.

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„Die Zeiten, in denen es ausreicht, dass ein 3-mal-3-Meter-Pavillon aufgestellt und Werbegeschenke verteilt werden, sind vorbei“, ist sich Mike sicher. „Wenn du heute als Marke auf einem Festival wahrgenommen werden willst, benötigt es Interaktion. Du musst etwas schaffen, das sich natürlich ins Festivalumfeld integriert und die Besucher zum Agieren animiert.“

Doch bereits da findet sich der erste große Fallstrick – und zwar, wenn Festivals und Marken die wohl größte Trendwende der vergangenen Jahren ignorieren: Nachhaltigkeit.

„Wenn du als, beispielsweise, Spirituosenmarke deine Gratis-Shots in Plastikbechern verteilst, kann es sein, dass du sie gar nicht erst loswirst. Festivalbesucher haben in den vergangenen Jahren ein solch sensibles Bewusstsein für sich und ihr Event entwickelt, dass Marken, die da nicht mitdenken, auf Freiware sitzenbleiben. Diese Reflexion, zu wissen, wie viel Müll ohnehin schon auf dem Campingplatz zusammenkommt, wie viel Energie der Aufbau und Liveproduktion des Festivals zieht, welche Reiserouten Musiker und Gäste hinter sich haben, schlägt sich in allem nieder und muss unbedingt beachtet werden. Es muss der Anspruch aller in einem Festivalumfeld agierenden Personen und Unternehmen sein, dieser Haltung gerecht zu werden“, appelliert Mike.

Festivals bald nur noch ein Irrgarten aus Produkten und Marken?

Ein Beispiel, wie ein moderner Markenauftritt, der zudem auch noch zu einem echten Highlight auf dem Festivalgelände wird, aussehen kann, bewiesen Mike und sein Team mit der inhaltlichen Konzeption des sogenannten „Giganten“ beim diesjährigen Parookaville. In der überdimensional-stilisierten Flasche des Partners Jägermeister fand sich nämlich: ein eigener Club, in dem die Besucher in einem intimeren Rahmen feiern konnten.

Beim sogenannten „Giganten“ auf dem Parookaville sorgten Mike und sein Team für die inhaltliche Konzeption, die aus dem Hingucker ein echtes Highlight machte.
Foto: ERROR

Aber: Besteht bei solch großen, allumfassenden Markenauftritten nicht auch die Gefahr, dass das Festival als eigentliche Attraktion, als eigentliche Kernmarke in den Hintergrund gerät? Mike ist anderer Meinung. „Von Festivalseite ist es zunehmend gewünscht, dass Marken mit großen Leuchttürmen – wie etwa dem Jägermeister-Giganten beim Parookaville – auftreten, weil so neue Treffpunkte auf dem Gelände geschaffen werden, die Besucher vom Campingplatz gelockt werden“, so der Marketing-Experte.

Leuchttürme, Treffpunkte, Markeneinbindung – das klingt dennoch alles sehr konstruiert und kalkuliert. Wird der Festivalbesucher künftig also nur noch als laufende Geldbörse angesehen, den man durch einen Irrgarten an Produkten und Möglichkeiten schleust? Wird hier der Kern des Festivalsommers als Hochzeit der Subkulturen aus den Angeln gehoben? Auch Mike kommt ins Grübeln.

„Das ist eine spannende These, denn tatsächlich nimmt der Anteil derer, die ein Festival vordergründig als Community-Event wahrnehmen und nicht als Konzertmarathon unter freiem Himmel, zu“, beginnt er seine Ausführungen. „Das ist eines der drastischsten Ergebnisse unserer Festivalstudie ‚Going Out.Side‘, die wir jährlich erheben. Es werden Festivaltickets für einen Camping-Kurzurlaub gekauft – nicht für ein Line-up.“

Viele sehen Festivals als ihren Jahresurlaub

Der Anspruch der meisten Festivalbesucher verschiebe sich, so der Vermarkter und frühere Festivalveranstalter – und darauf würden gerade die Big Player auf dem Markt reagieren: „Festivals wie das Tomorrowland und Rock am Ring werden sich zunehmend in die Richtung entwickeln, dass sie ihre Besucher ein Wochenende lang wie durch ein Phantasialand leiten werden: ständige Reize, ständige Aktivitäten, ständiger Konsum.“

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Dabei ist das Wachstum des Boom-Marktes Musikfestival auch nicht unendlich. Die immer gleichen Acts im Line-up, immer weniger potenzielle Headliner-Acts, kontinuierlich, teils sogar sprunghaft steigende Ticketpreise – die Liste der Probleme und Ärgernisse, vor denen sich sowohl Veranstalter als auch vor allem Fans wiederfinden, ist lang. Droht der Festivalblase in naher Zukunft also der große Knall?

„Das ist eine berechtigte Frage und eine, die mich auch stark umtreibt“, zeigt sich Mike nachdenklich. Auch hier müsse man jedoch differenziert betrachten, findet er: „Ja, bei den großen Major-Festivals kommen die benannten Probleme extremer zusammen als bei Boutique-Festivals, und ja, Major-Festivals versprühen in der Regel nicht einen solch einzigartigen Community-Spirit wie es kleinere Festivals durch ihr wesentlich individualisiertes Angebot schaffen. Unsere ‚Going Out.Side‘-Studie zeigt aber auch: 70% der 15.000 befragten Festivalgänger beziehen ihre Festivalbesuche in die jährliche Urlaubsplanung ein. Für den Großteil der Zielgruppe sind die Festivals also ohnehin fest eingeplant im Jahreskalender, so wie für andere der Mallorca-Urlaub im Sommer.“

„Mit zwei, drei Stages und ein paar Bierbuden gewinnst du keine Besucher mehr“

Das Festival als Urlaubsersatz, als fest eingetragener Termin im Kalender, an dem man ebenso wenig wie an Ostern und Weihnachten rütteln kann. So sieht also wohl die Zukunft aus. Besonders kleine Festivals müssen deshalb besonders kreative, nischige Wege gehen, um auf sich aufmerksam zu machen und im Dickicht der Möglichkeiten durchzustechen.

Mike wehrt sich jedoch gegen aufkeimenden Kulturpessimismus. Er differenziert: „Boutique- und Underground-Festivals, in denen die Musik und das soziale Zusammenkommen mit Gleichgesinnten im Vordergrund steht und bei denen große Markeninszenierungen bewusst ausgeschlossen werden, weil sie dem Vibe des Festivals nur schaden würden. Open Airs, wie etwa das Feel und Fusion, haben ihre absolute Daseinsberechtigung, eben weil sie sich auf die rudimentärsten Elemente eines Festivals konzentrieren: ein Wochenende lang mit voller Ekstase die eigene Lieblingsmusik konsumieren.“

NRW sieht Mike dabei besonders im elektronischen Musikbereich mit einen der einzigartigsten Leuchttürme der deutschen Festivallandschaft sicher aufgestellt: „Das Parookaville mit seinem Storytelling-Konzept, das Nibiri mit seiner Verbindung zum weltweit geschätzten Kölner Club Bootshaus, die Pollerwiesen, die seit nunmehr Jahrzehnten sich treu bleiben und allen Trends und Schmeicheleien trotzen.“ Auch deshalb kommt er zum Fazit: „Mit zwei, drei Stages in einer Betonwüste und dazwischen ein paar Currywurst- und Bierbuden gewinnst du keine Zehntausende von Besuchern mehr für dich.“